Montag, 6. Juli 2015

Diskussion mit Klaus Robra


Herr Dr. Klaus Robra hat mir per E-mail vom 27.06.2015 einige Fragen gestellt. Mit seiner Genehmigung veröffentliche ich hier auszugsweise seine Zuschrift sowie meine Antwort darauf, weil der Schriftwechsel auch für  andere Leser von Interesse sein kann.

Die Fragen von Klaus Robra:

1. Wenn Ihr Zeit-Konzept ein logisch-mathematisches Prinzip ist, müsste es dann nicht auch mathematisch ausdrückbar sein?

2. Genügt es logisch, die Zeit als absolute, unveränderlich-gleichförmige Abfolge von Augenblicken aufzufassen? Ist damit bereits das Wesen der Zeit erfasst?

3. Den Relationismus verteidigt vehement Lee Smolin (in: "Im Universum der Zeit", 2014). Wie beurteilen Sie (evtl.) seine Argumente?

4. Ist die Kosmische-Zeit-Hypothese (H. Fritsch u.a.) mit Ihrem Zeit-Konzept vereinbar?

5. Werden durch Ihr neues Absolutheits-Konzept alle anderen, z.B. nicht-linearen, diskontinuierlichen Zeit-Vorstellungen hinfällig (obwohl sie weitgehend unserem angeborenen Zeitgefühl entsprechen)?

6. Soziologisch (z.B. bei Hartmut Rosa) gehört zu den nicht-linearen Konzepten auch die "Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne." Ist dieses Konzept - und damit auch Begriffe wie Eigenzeit, Vergleichzeitigung, Alltagszeit, Lebenszeit, Epochen-Zeit (bzw. Weltzeit, wie u.a. bei Heidegger) - untauglich geworden?


Meine Antworten:

1. Schon Newton bezeichnete die absolute Zeit auch als wahre, mathematische Zeit. (Was sich allerdings nicht mit Newtons Substantialismus verträgt, denn die Zeit kann nicht wie ein reales Ding existieren, wenn sie ein abstraktes Prinzip ist). - Zeit ist das Maß für Dauer und Geschwindigkeit. Das Messen ist ein logisch-mathematischer Vorgang. Das Abzählen von Sekunden ist Mathematik in einfachster Form. Die Geschwindigkeit einer Bewegung erhalten wir durch die Formel v = s/t .

2. Die Beschreibung der Zeit als gleichförmige Abfolge von Augenblicken trifft nicht das Wesen der Zeit. Diese Beschreibung passt ebenso auf die substantialistische Auffassung Newtons. Das Wesen der Zeit:  Zeit ist das Maß für Dauer und Geschwindigkeit.
Die Zeit besteht nicht in einer Abfolge, sondern die realen Geschehnisse bilden eine Abfolge. Wir alle müssen umdenken, wenn wir das Wesen der Zeit verstehen wollen.

3. Lee Smolin: "Zeit ist real". Ein Irrtum. Es gibt nichts außerhalb des Verstandes, was man als Zeit bezeichnen könnte.

4. Kosmische Zeit. Dieses Konzept setzt nicht nur den Relationismus voraus, sondern beruht überdies auf der Relativitätstheorie. Wie sollte sich die Zeit verändern, weil sich der Raum ausdehnt? Absurd.

5. Nach unserem Zeitgefühl und Zeiterlebnis ist die Zeit relativ (je nachdem ob wir beim Zahnarzt oder in einem angenehmen Gespräch sind, um ein abgedroschenes Beispiel zu nennen). Doch Zeitgefühl und Zeiterlebnis sind nicht Gegenstand der Naturphilosophie, sondern der Psychologie und anderer Disziplinen. Mein Thema ist die Zeit im naturphilosophischen Sinn.

6. Andere nicht-lineare Zeitkonzepte (soziologisch, kulturgeschichtlich, existenzphilosophisch u.a.). Sie alle bewegen sich in anderen Gebieten der Philosophie. Die fehlende Differenzierung zwischen solchen Konzepten und der Naturphilosophie hat zu babylonischer Sprach- und Begriffsverwirrung geführt.

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Mit einer zweiten Mail vom 02.07.2015 hat mir Dr. Klaus Robra einige kritische Einwendungen gegen mein Zeitkonzept mitgeteilt.

Nachstehend der wesentliche Inhalt seiner Argumente und jeweils anschließend meine Stellungnahme.

Robra: Was Sie als "absolute Zeit" bezeichnen, ist also die Zeit als "das Maß für Dauer und Geschwindigkeit". Liegt da nicht eine Verwechslung vor? Sind Zeit und Zeitmaß identisch?

Mayr: Identisch sind Zeit und Zeitmaß nur dann, wenn man im Sinne des Relationismus die Dauer gleichsetzt mit Zeit. Die Dauer - der Abstand in der Aufeinanderfolge von zwei Ereignissen - ist eine Relation, die Zeit ist das Maß für die Relationen. - Im übrigen hat man auch bei der Beschreibung anderer Messvorgänge die entsprechende Tautologie. Längenmaß ist das Meter, also eine ganz bestimmte, als Maß gewählte Länge. Die Beschreibung nach der reinen Wortlogik lautet: Länge ist das Maß der Länge.

Robra: Zeit als "Maß der Bewegung" kannte schon Aristoteles. Hat es seitdem in der Naturphilosophie der Zeit keinerlei Fortschritte gegeben?

Mayr: Nach Aristoteles kam zunächst nichts bis zum 17. Jahrhundert. Dann Newton: Die Zeit ist Substanz. Fortschritt? Leibniz: Die Zeit ist Eigenschaft der Dinge (Relation), was lediglich eine Verneinung der Position von Newton ist. Fortschritt? Kant: Die Zeit ist Denkstruktur, ist angeborenes Ordnungssystem. Ein großer Fortschritt, aber es fehlt der Bezug zur realen Außenwelt.

Robra: Absolut kann die Zeit als Zeitmaß schon deshalb nicht sein, weil sie in der Form v = s/t in Abhängigkeit vom Raum erscheint - was sie ja gerade durch Ihre Kritik der Raumzeit ausschließen wollen.

Mayr: Die Formel v = s/t ist nur ein Beispiel, wenn auch ein sehr markantes. Wenn Zeit das Maß von Geschwindigkeit ist, so geht es nicht nur um die Geschwindigkeit, mit der eine Strecke zurückgelegt wird. Es geht generell um die Geschwindigkeit von Veränderung, nicht nur von Ortsveränderung, die üblich als Bewegung bezeichnet wird. Zum Beispiel die Geschwindigkeit, mit der eine bestimmte Menge Wasser unter bestimmten Bedingungen verdunstet. Dauert der Vorgang wenige Sekunden, so sagen wir, er erfolgt schnell. Dauert der selbe Vorgang viele Sekunden, so sagen wir, er erfolgt langsam.  Auch hier sieht man, dass die Zeit das Maß für die Dauer und Geschwindigkeit des Vorgangs ist.

Robra: Verwendet man die Formel t = s/v, erscheint die Zeit als ZAHL, was aber mit dem kontinuierlichen Nacheinander des tatsächlichen Zeitverlaufs nicht vereinbar ist.  Die Zahl ist nicht das Wesen der Zeit. Im Gegenteil: Die Mathematik ist anscheinend das Ende, der Tod der Zeit.

Mayr: Vielleicht sollten wir uns beide nicht so sehr an meiner Bezeichnung der Zeit als "mathematisches Prinzip" festbeißen. Worauf ich hinaus will, ist einfach folgendes: Die Zeit ist keine Substanz, sie ist auch keine Eigenschaft von Dingen, sondern sie ist ein (abstraktes) Ordnungsprinzip, an dem ich einen bestimmten Aspekt der (physikalischen) Wirklichkeit messe, nämlich das Nacheinander der Veränderungen.

Robra: Die Zeit besteht nicht aus dem Zeitmaß, sondern aus dem Gemessenen. Dieses Gemessene ist die tatsächliche Zeit, die aber nur indirekt, nicht durch irgendein Sensorium erfahrbar ist.  - Außerdem gilt die Dauer ja als charakteristisch für die subjektiv gefühlte, erlebte Zeit. Dieser "Zeitpfeil" ist jedoch nicht absolut, sondern relativ und diskontinuierlich.

Mayr: Hier kommen wir auf den Punkt. Sie gehen davon aus, dass die Zeit in Relationen besteht, also in den zeitlichen Beziehungen der Dinge zueinander. Ich bestreite dies, indem ich sage, dass es außerhalb des Verstandes nichts gibt, das man als Zeit bezeichnen könnte. - Über die subjektiv gefühlte, erlebte Zeit hatten wir schon im ersten Teil, Nr. 5, gesprochen.

Robra: Wie soll der Übergang vom "absoluten" Maß der Zeitmessung zur eher relativen Uhrzeit gedacht werden?

Mayr: Ich sehe da kein philosophisches Problem. Unsere angeborene Ordnungsstruktur "Zeit" ist absolut in dem Sinne, dass sie einen gleichmäßigen Maßstab von Zeitpunkten an die Wirklichkeit legt. Zum Messen sind wir aber auf Uhren als Werkzeug angewiesen. Uhren gehen jedoch niemals absolut genau. Schon Newton hat gehofft, dass der angestrebte gleichmäßige Gang der Uhren durch den technischen Fortschritt irgendwann verwirklicht wird. Man mag darüber streiten, ob durch moderne Atomuhren, die in mehreren Millionen Jahren theoretisch nur um eine Sekunde vom gleichmäßigen Gang abweichen, Newtons Hoffnung praktisch erfüllt wird, oder ob Uhren theoretisch niemals vollkommen gleichmäßig gehen.

Robra: Ich ziehe Smolins Definition der Zeit als unveränderliche "Reihe von Augenblicken" vor, wobei die Relationen zwischen Ereignissen keineswegs belanglos werden. Was allerdings auch die Frage aufwirft: Wie lang ist ein Augenblick?

Mayr: Gegen den Relationismus, den auch Smolin vertritt, kann man folgendes einwenden: Indem der Relationismus sagt, dass Raum und Zeit in den räumlichen und zeitlichen Beziehungen der Dinge bestehen, setzt er Raum und Zeit bereits voraus. - Die Zeit als eine Reihe von Augenblicken, dem kann ich zustimmen, jedoch mit einem entscheidenden Unterschied. Die Reihe der gleichmäßigen Augenblicke ist   keine Eigenschaft der Welt, sondern eine gedachte Ordnungsstruktur. - Wie lang ist ein Augenblick? Der Augenblick oder Zeitpunkt kann beliebig klein gedacht werden. Zwar sind unsere Sinneswahrnehmungen begrenzt und die Kleinteiligkeit der Uhrenskala gerät an technische Grenzen, aber das ist ohne Belang. Die durch den Verstand gegebene Vorstellung ist der beliebig kleine Augenblick. Die Techniker versuchen deshalb, Uhren zu bauen, mit denen man milliardstel Sekunden messen kann. Den Sinnesapparat des Menschen kann man nicht umbauen. Was weniger als 0,3 Sekunden dauert, können wir nicht unterscheiden (oder war es eine andere Zahl?)

Robra: Die Weltzeit kann nicht rein subjektiv sein.

Mayr: Sie bringen mich damit ins Grübeln, weil ich selbst der Meinung bin, dass es nur eine Zeit gibt. Weil nämlich die Welt als Ganzes gleichzeitig existiert. Aus diesem Grund ist jeder Augenblick überall der selbe. Nun könnte man auf die Idee kommen, die universelle Gleichzeitigkeit sei eine Eigenschaft der Welt, nicht jedoch Teil der angeborenen Ordnungsstrukur "Zeit". Man muss nachdenken. - Nachtrag vom August 2015: Ich hätte statt dessen die Gegenfrage stellen sollen, was Herr Robra überhaupt unter Weltzeit versteht.


Anmerkung:  Der zweite Teil des Gedankenaustauschs aufgrund der E-Mail vom 2.7.15 hat nicht in der dargestellten Dialogform stattgefunden. Ich habe die mir wesentlich erscheinenden Argumente aus der Mail von Herrn Dr. Robra  einzeln angeführt und jeweils  unmittelbar zu jedem Kritikpunkt  meine Stellungnahme angefügt.

Die Kritik des Philosophen und ehemaligen Hochschullehrers Klaus Robra war für mich sehr wichtig, weil ich dadurch gezwungen war, einige meiner Grundüberlegungen selbstkritisch zu prüfen.
  

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